»Bei Tisch soll man nicht über Politik reden«, sagt Lucy, die feinsinnige alte Dame aus London. »Das verdirbt den Appetit.« Und der spielt an Bord der Queen Mary 2 natürlich eine wichtige Rolle: Kalte Tomatensuppe mit Gin, gegrillter Schwertfisch, Waldpilze, Kohlrabi-Tarte, Panna Cotta mit Aprikosenkompott... Aber was soll man machen, wenn man, wie Fjodor Kokoschkin, 95 Jahre zählt und fast genau so lange immer wieder ein Opfer von - eben - Politik geworden ist? Sicher, der emeritierter Professor der Botanik aus Boston, Spezialgebiet Gräser, genießt die Annehmlichkeiten der Überfahrt von Southampton nach New York durchaus. Mal ein Zigarillo Juan Clemente, ein später Imbiss, Faulenzen im Liegestuhl an Deck. Sehr gerne liest er Olga Noborra, der schönen Architektin, etwas Russisches vor und bringt ihr in der Karaoke-Bar gar ein Ständchen: »Bei mir biste scheen«.
Aber einfach aufzugehen in der verordneten Leicht- und Seichtigkeit des Lebens an Bord, gelingt dem alten Mann nicht. Während die anderen Passagiere Bridgeunterricht nehmen, am Golfsimulator üben oder sich für das Suffleboard-Turnier fit machen, steigen in seiner Erinnerung die Bilder der Reise auf, die er eben unternommen hat, einer Reise tief in die eigene Vergangenheit.
St. Petersburg hatte er besucht, wo sein Vater, Mitglied der Konstitutionellen Demokraten und der ersten freigewählten Verfassung gebenden Versammlung, 1918 im Mariinskaja Hospital von Bolschewisten erstochen worden war. Berlin war eine weitere Station, wohin seine Mutter über Odessa mit ihm geflohen war. Gönner ermöglichten ihm den Besuch des Joachimsthalschen Gymnasiums in Templin. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete er später im Botanischen Garten und verliebte sich in seine Vorarbeiterin Aline. Prag stand am Ende. Nach Prag hatte er sich 1933 abgesetzt, als die Berliner Universität immer mehr auf Nazi-Kurs ging. 1968 hatte er die tschechoslowakische Hauptstadt noch einmal besucht, kurz vor dem Einmarsch der Russen.