Zwanzig Bücher reisten mit, fünf davon habe ich gelesen. Also, eigentlich fünf plus eins, denn es war auch eine Art Reiseführer dabei. Für über drei Wochen Urlaub ist das gar nicht mal viel. Gut, nun gab es in Frankreich viel zu tun: Mit dem Rad umherfahren, durch Dörfer und Städte pirschen, in der Gegend herumwandern, alle möglichen Tomatensorten ausprobieren - und einfach sitzen, sich hier und da einem von Tagträumen durchtränkten Nickerchen hingeben. Der Rest ist Lesen!
Und wie ich in der Ankündigung des Blogurlaubs versprach, erzähle ich von meiner Zeltlektüre. Denn unterwegs war ich im Zelt. Eine Art des Reisens, die man entweder liebt oder hasst. Ich liebe das: Die Zeit verschwimmt, man ist immer draußen, das Habitat ist überschaubar und man geht mit der Sonne zu Bett und sitzt mit ihrem Wiedererscheinen am Morgen beim ersten Kaffee. Und beim Buch.
„Das durfte nicht sein. Sie hasste Skandale.“
Durch einen Kinofilm habe ich vor inzwischen fünfundzwanzig Jahren Edith Wharton für mich entdeckt. Martin Scorcese verfilmte ihren Roman Zeit der Unschuld. Mit Michelle Pfeiffer, Winona Ryder und Daniel Day-Lewis hervorragend besetzt, liebte ich diesen Film sehr. Gerade weil die Geschichte damals herausstach. Eine Geschichte von Liebe, ja, aber sie erzählt von Konventionen und den eingeschränkten Möglichkeiten des und vor allem der Einzelnen, sie erzählt von Moral und Doppelmoral in der New Yorker Gesellschaft in den 1870ern.
Ich las das Buch. Ich las alles von Edith Wharton, was ich finden konnte. Das war nicht sehr viel, denn lange Zeit waren die deutschsprachigen Übersetzungen vergriffen. Ich mag ihren scharfen und mit einem durchaus bösartigen, aber nicht mitleidlosen Humor gefärbten Blick auf die Gesellschaft. Stets ist ihre Sympathie für das Menschliche spürbar, wenn sie ihre Figuren auf ihrer Suche nach Echtheit und Eigenwillen scheitern lässt. So auch in Dämmerschlaf, das aber zeitlich viel später angesiedelt ist als Zeit der Unschuld.
Ein modernes Mädchen war immer frei, wiewohl man erwartet, das es mit seiner Freiheit umzugehen verstand.
Die Geschichte spielt in den 1920er Jahren in den besseren Kreisen von New York. Es gilt als ihr bösestes Buch. In der Tat ist es mitunter schockierend entlarvend und lässt geradezu heiter auflachen, wenn sie die Eigenheiten insbesondere ihrer zentralen Figur Pauline Manford beschreibt. Viele der heute noch oder wieder angesagten Themen und gesellschaftlichen Strukturen finden sich wieder. Und so lacht man auch über sich selbst. Ich mochte es sehr. Und ich bin froh, dass wieder mehr Bücher von Edith Wharton lieferbar sind. Das bedeutet: Mehr!
„Die Unruhen schufen nach einer Weile eine ganz eigene Ästhetik.“
Mit dem nächsten Buch reiste ich nach Belfast, in die 1980er Jahre. Das war damals eine Zeit, in der ich mehr mit mir selbst als mir dem Weltgeschehen beschäftigt war. Und dennoch gehen mir viele Bilder von Gewalt und Anschlägen durch den Kopf, wenn ich an Nordirland vor nunmehr vierzig Jahren denke. Schon allein durch die Rezeption in Musik und Film (besonders eindrücklich: Im Namen des Vaters) ruft das Lesen des Kriminalromans von Adrian McKinty viele Assoziationen in mir wach. Den deutschen Titel finde ich nicht sehr glücklich: Der katholische Bulle. Der Originaltitel The Cold Cold Ground trifft den Inhalt des Buchs meines Erachtens viel besser.
Als ich mein Gespräch mit Christiane und unseren Gang durch den Krimi vorbereitete, fiel mir auf, dass sie von Beginn an die Bände von Adrian McKinty in den monatlichen Buchtipps hatte. Musste ich mitnehmen und ich habe es nicht bereut. Der Sound, in dem McKinty erzählt, ist ein bißchen gewöhnungsbedürftig, rau, mitunter barsch, vielleicht der Sound der Zeit? Was dadurch aber klar wird: Es war eine andere Zeit, auch in zwischenmenschlicher Hinsicht (z.B. bevor AIDS ein Thema wurde). Mit Anspielungen auf Musik wird Zeitgeist hörbar, wenn man sich einige Titel mal in einschlägigen Portalen raussucht. Mich interessiert dieser Kommissar und das Nordirland, von dem McKinty erzählt. Dass es ein Krimi ist, schadet der Sache ganz und gar nicht.
„Zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter verliebte sich mein Vater in eine berückende blonde geschiedene Frau aus der Ukraine.“
Der erste Satz aus Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch von Marina Lewycka. Irre viele Menschen haben dieses Buch bereits gelesen und für gut befunden. Es gilt als Welterfolg und wurde gar in 29 Sprachen übersetzt. Grundsätzlich verständlich, denn es ist für jeden etwas dabei. Hm, aber als ich meine Zeltlektüre zusammenkramte, um darüber zu erzählen, hatte ich kurz vergessen, dass ich es gelesen hatte. Es war wirklich nett zu lesen - aber wenn ich darüber nachdenke, hat mich der Ton beim Lesen immer leicht genervt. Ja, auch die handelnden Personen. Aber damit möchte ich dem Buch gewiss nicht seine Güte absprechen. Mir lag es einfach nicht so recht. Obwohl die Voraussetzungen alle darauf hindeuten, dass es ein Buch für mich ist: Ich mag Familiengeschichten. Es geht um aufeinanderprallende Kulturen. Man lernt etwas über die Ukraine und die Geschichte des Traktors. Hm. Und dennoch ...
„Die knorrige Hand fuhr hinein in das wurlende Knäuel neugeborenen Lebens.“
Kommen wir also nun zu etwas völlig anderem. Das war mein Gedanke, als ich im Anschluss zu diesem Buch griff, das mir Christiane nicht zuletzt wegen seiner Sprache und des bemerkenswerten Genre-Mix ans Herz legte. Für sie darf dieser Roman momentan nicht in ihrem Sortiment fehlen. Nachdem ich es gelesen habe, verstehe ich, warum. Das finstere Tal gab und gibt mir ganz schön zu denken. zunächst mal gefiel es mir tatsächlich sehr wegen der Sprache. Ich hege eine innige Liebe zu altertümlich klingenden, wuchtigen Wörtern und Sätzen. Aber die Wendung, die diese düstere Geschichte nimmt - die zwar im Text sachte angelegt wird, was sich aber erst am Ende erschließt -, nahm mich ganz schön mit.
Das Buch ließ mich zurück mit vielen Gedanken über Rechtssysteme und vor allem über die kostbare Errungenschaft von gleichen Rechten für alle Menschen. Von diesen Gedanken ab ist das einfach eine spannende und ungeachtet der Wuchtigkeit größtenteils beinahe leise Geschichte. Hoffentlich schreibt der Autor weiter.
„Major Pettigrew war noch ganz aufgewühlt von dem Anruf seiner Schwägerin und öffnete, nachdem es geklingelt hatte, gedankenverloren die Tür.“
Nachdem ich das finstere Tal hinter mir gelassen hatte, war mir nach etwas Fluffigem, Unbeschwerten. Im Buchladen hätte ich nach diesem Buch vermutlich nie gegriffen: Der Titel, das Cover und ein betulicher Klappentext - nichts daran sprach mich auf Anhieb an. Aber da Christiane mir das Buch empfohlen hatte (ein wenig zögerlich zwar, aber sie meinte, das könne was für mich sein), da nahm ich es kurzerhand mit. Und bin froh darüber!
Gut, manchmal lässt mich das Vorgehen von Verlagen wirklich ratlos zurück. Denn weder Cover noch Titel noch Klappentext haben ernsthaft etwas mit dem Inhalt zu tun. Allein schon der Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft? Die Geschichte wird aus der Sicht des Major Pettigrew erzählt. Wieviel treffender ist auch hier der Originaltitel: Major Pettigrew's Last Stand. Tee spielt nur am Rande eine Rolle, aber der Klappentext wird mit dem floskelhaften Satz Ein Leben ohne Tee ist möglich, aber sinnlos aufgemacht. Das grenzt schon an Irreführung, was der Verlag Droemer-Knaur hier macht. „Hundebesitzer hält niemand für verrückt, selbst wenn sie im Schlafanzug rausgehen.“ Schade, denn das Buch ist wirklich nett.
Mit einem leicht nostalgischen Ton nimmt uns Helen Simonson mit in die englische Gesellschaft, einige Folgen ihrer kolonialen Vergangenheit, familiären Verstrickungen und den Befreiungskampf um gesellschaftliche Konventionen und Rollenbilder. All das kommt recht harmlos und heiter daher, aber ein ernsthafter Hintergrund ist durchaus spürbar. Ich habe es gern gelesen.
„Ich hatte darüber gelesen“, antwortete Leander Lost, „aber die Macht des Faktischen ist unübertroffen.“
Mal nicht der erste Satz, sondern einer, den ich hübsch fand. Darüberhinaus fanden Leander Lost und ich nicht zusammen. Nicht immer sind Empfehlungen ein Treffer. Hier musste ich abbrechen. Ein Klischee jagt das nächste und ich finde die Bilder und Formulierungen, die der (im übrigen deutschsprachige, unter einen Pseudonym schreibenden) Autor wählt, doch arg abgegriffen. Die schon auf den ersten Seiten angelegten zwischenmenschlichen Konflikte erinnern mich an die typischen deutschen Krimis im Fernsehen. Ach ja, hinter dem Pseudonym Gil Ribeiro verbirgt sich der Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt. Vielleicht ist die Reihe ja darauf angelegt, mal verfilmt zu werden.
Wie auch immer: Ich bin raus. Am einem Lesemittwoch legte ich diesen Portugal-Krimi zur Seite und griff mir stattdessen Robert Seethalers Jetzt wird's ernst: „Aber zu spät. Ich wanke bereits, torkele, versuche einen stabilisierenden Ausfallschritt, rudere mit den Armen, trete auf meine Pappmachéwurzeln, stolpere, verliere das Gleichgewicht und kippe langsam von der Bühne.“ Mit diesem zuletzt gelesenen Satz begab ich mich zur Nachtruhe. (Zwei Tage später stellte ich dann fest, dass ich zum einen diesen Seethaler schon mal gelesen hatte - und ich zu anderen mit Seethaler wohl durch bin. So kann's gehen. Irgendwann dennoch mal Das Feld.)
P.S. Der Reiseführer! Es war 111 Orte in der Provence, die man gesehen haben muss von Ralf Nestmeyer. So oft wir die Provence bereits bereisten, so entdeckten wir dank diesess Buchs Folgendes: 1. Die Dentelles de Montmirail. Dass es sie gibt, wussten wir. Animiert ging's für eine schöne Wanderung dorthin. 2. Den Plage de Piémanson in der Camargue, wo wir die Füße ins Mittelmeer tauchten. 3. Den Aqueduc de Barbegal, ein beeindruckendes Stück Wasserleitung nebst Mühlen aus der Zeit der alten Römer. Steht einfach so in der Gegend herum und man kann staunend entlangwandern. Nebenbei entdeckten wir auch einige Fehler im Buch. Die bekommt dann der Verlag als Urlaubsmitbringsel ...